InterviewKultur leben, Gemeinschaft stiften

UNESCO-Welterbestätten sind in Stein gehauene Monumente menschlicher Schöpfungskraft. Neben den großen Wegmarken unserer Geschichte gehören aber auch lebendige Traditionen dazu, die den Menschen Halt und Zugehörigkeit geben, wie Tanz, Theater, Musik und Handwerk. Das Immaterielle Kulturerbe ist das Wissen und Können, das wir erlernen, verändern und von Generation zu Generation weitergeben,sagt der Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission Dr. Roman Luckscheiter.
 

DM: Herr Dr. Luckscheiter, welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit etwas zum „Immateriellen Kulturerbe“ wird?
Dr. Roman Luckscheiter: Die internationalen UNESCO-Listen des Immateriellen Kulturerbes versammeln derzeit rund 700 Kulturformen. Dazu gehören etwa die Saunakultur in Finnland und der Reggae aus Jamaika, aber auch sieben Einträge aus Deutschland. Neben der Genossenschaftsidee sind das die Falknerei, Orgelbau und Orgelmusik, der Blaudruck und das Bauhüttenwesen. Erst im vergangenen Jahr wurden der Moderne Tanz und die Flößerei aufgenommen, die von der Bundesrepublik gemeinsam mit Lettland, Österreich, Polen, Spanien und Tschechien vorgeschlagen wurde. Um die UNESCO-Auszeichnung zu erhalten, muss eine Kulturform aber zunächst in einem nationalen Kulturerbe-Register geführt werden. In Deutschland ist das das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes mit seinen aktuell 144 Einträgen.

Grundvoraussetzung dafür ist, dass Erhalt und Weiterentwicklung der Kulturform gesichert sind, sie also gesellschaftlich verankert ist und mit Leben erfüllt wird. Zudem muss sie allen Menschen offen stehen und darf nicht allein kommerziellen Zwecken dienen.
 

DM: Welche Verpflichtung bedeutet die Auszeichnung für die Betroffenen? Und sind damit finanzielle Vorteile verknüpft?
Dr. Roman Luckscheiter: Die Auszeichnung hat eine enorme Strahlkraft und schafft Aufmerksamkeit, die immens wichtig ist. Denn Kultur zu leben bedeutet, Gemeinschaft zu stiften. Wir vergessen das mitunter, aber wer sein Wissen und Können weitergibt, macht sich damit Tag für Tag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt stark. Auch wenn mit einem Eintrag in die Listen keine unmittelbare finanzielle Unterstützung verbunden ist, hilft sie den Organisationen und Menschen, die dahinter stehen, für ihre Anliegen zu werben und Mittel für eine aktive Kulturförderung einzuwerben.

Im Gegenzug verpflichten sich die Ausgezeichneten, ihre kulturelle Ausdrucksform zu erhalten und vor allem weiterzuentwickeln, denn es geht nicht darum, einen Status quo zu konservieren. Das UNESCO-Übereinkommen, das vor 20 Jahren geschlossen wurde, will eine lebendige Kultur fördern, die immer auch dynamisch ist, geprägt von der Veränderung, der Zeit und den Menschen, die sie leben.
 

DM: Die Auszeichnung „Immaterielles Kulturerbe“ gibt es allein in Deutschland 144 Mal. Ist das nicht ziemlich inflationär?
Dr. Roman Luckscheiter: Nein, im Gegenteil. Sie müssen sich das Bundesweite Verzeichnis als Mosaik vorstellen, das Stück für Stück wächst und erst dadurch seine ganze Bedeutung entfaltet. Wir wollen mit dieser Liste ja nicht die zehn größten kulturellen Highlights unseres Landes zusammenfassen. Es geht vielmehr um eine Bestandsaufnahme, und darum, zu zeigen, wie vielfältig, bunt und kreativ das kulturelle Leben in unseren 16 Bundesländern ist. Dazu gehören die Passionsspiele in Oberammergau genau so wie der Hip-Hop in Heidelberg, der Streuobstanbau und der Poetry-Slam.
 

DM: Gibt es Regionen oder Kontinente, die unterrepräsentiert sind?
Dr. Roman Luckscheiter: Bis heute haben 181 Staaten das UNESCO-Übereinkommen zum Immateriellen Kulturerbe ratifiziert. Die Konvention genießt damit fast universelle Gültigkeit. Für die regionale Ausgewogenheit sollen unter anderem festgelegte Kontingente sorgen. So hat jeder Vertragsstaat ein Anrecht, alle zwei Jahre eine unilaterale Nominierung durch die zuständigen UNESCO-Gremien prüfen und bewerten zu lassen. Multinationale Vorschläge, wie die Flößerei, sind von dieser Beschränkung ausgenommen, weil sie einen großen Beitrag zur grenzübergreifenden Zusammenarbeit leisten.

Auf den UNESCO-Listen finden sich besonders viele solcher Einträge aus Europa, das neben Asien die meisten Listungen verzeichnet. Lateinamerika, die arabischen Staaten und Afrika haben insgesamt weniger, aber im Verhältnis zueinander ähnliche viele kulturelle Praktiken auf den Listen hinterlegt. Dieses Ungleichgewicht ist nicht selten fehlenden Kapazitäten geschuldet. Wir dürfen nicht vergessen, dass es viel Zeit und eben auch Geld braucht, um das komplexe Antragsverfahren zu bewältigen. Deshalb hält die UNESCO Mittel bereit, um einzelne Staaten und Gemeinschaften gezielt bei der Ausarbeitung ihrer Nominierungen zu unterstützen.

Um die gesamte Vielfalt unserer Welt abzubilden, hoffen wir für die Zukunft auf regional ausgewogenere Listen und auch auf neue Beiträge, die das kulturelle Leben von Minderheiten und migrantischer Communities widerspiegeln.
 

Interview Marie Wildermann